Gottfried Keller: Der grüne
Heinrich, 1880.
So lebten wir, unbefangen und glücklich, manche Tage
dahin; bald ging ich über den Berg, bald kam Anna zu uns, und unsere
Freundschaft galt schon für eine ausgemachte Sache, an der niemand
ein Arges fand, und ich war am Ende der einzige, welcher heimlich ihr
den Namen Liebe gab, weil mir einmal alles sich zum Romane gestaltete.
Um diese Zeit erkrankte meine Großmutter, nach und nach, doch immer
ernstlicher, und nach wenigen Wochen sah man, daß sie sterben würde.
Sie hatte genug gelebt und war müde; solange sie noch bei guten Sinnen
war, sah sie gern, wenn ich eine Stunde oder zwei an ihrem Bette verweilte,
und ich fügte mich willig dieser Pflicht, obgleich der Anblick ihres
Leidens und der Aufenthalt in der Krankenstube mich ungewohnt und trübselig
dünkte. Als sie aber in das eigentliche Sterben kam, welches mehrere
Tage dauerte, wurde mir diese Pflicht zu einer ernsten und strengen Übung.
Ich hatte noch nie jemanden sterben sehen und sah nun die bewußtlose,
oder wenigstens so scheinende Greisin mehrere Tage röchelnd im Todeskampfe
liegen, denn ihr Lebensfunke mochte fast nicht erlöschen. Die Sitte
verlangte, daß immer mindestens drei Personen in dem Gemache sich
aufhielten, um abwechselnd zu beten und den fremden Besuchern, welche
unablässig eintraten, die Ehren zu erweisen und Nachricht zu geben.
Nun hatten aber die Leute, bei dem goldenen Wetter, gerade viel zu arbeiten,
und ich, der ich nichts versäumte und geläufig las, war ihnen
daher willkommen und wurde den größten Teil des Tages am Todesbette
festgehalten. Auf einem Schemel sitzend, ein Buch auf den Knien, mußte
ich mit vernehmlicher Stimme Gebete, Psalmen und Sterbelieder lesen und
erwarb mir zwar durch meine Ausdauer die Gunst der Frauen, wofür
ich aber den schönen Sonnenschein nur von ferne und den Tod beständig
in der Nähe betrachten durfte.
Ich konnte mich gar nicht mehr nach Anna umsehen, obschon sie mein süßester
Trost in meiner asketischen Lage war; da erschien sie, schüchtern
und manierlich, unversehens auf der Schwelle der Krankenstube, um die
ihr sehr entfernt Verwandte zu besuchen. Das junge Mädchen war beliebt
und geehrt unter den Bäuerinnen und daher jetzt willkommen geheißen,
und als sie sich, nach einigem stillen Aufenthalte, anbot, mich im Gebete
abzulösen, wurde ihr dies gern gestattet, und so blieb sie die noch
übrige Sterbenszeit an meiner Seite und sah mit mir die ringende
Flamme verlöschen. Wir sprachen selten miteinander, nur wenn wir
uns die geistlichen Bücher übergaben, flüsterten wir einige
Worte, oder wenn wir beide frei waren, ruhten wir behaglich nebeneinander
aus und neckten uns im stillen, da die Jugend einmal ihr Recht geltend
machte. Als der Tod eingetreten und die Frauen laut schluchzten, da zerfloß
auch Anna in Tränen und konnte sich nicht zufrieden geben, da sie
doch der Todesfall weniger berührte als mich, der ich als Enkel der
Toten, obgleich ernst und nachdenklich, trockenen Auges blieb. Ich wurde
besorgt für das arme Kind, welches immer heftiger weinte, und fühlte
mich sehr niedergeschlagen und betreten. Ich führte sie in den Garten,
streichelte ihr die Wangen und bat sie inständig, doch nicht so sehr
zu weinen. Da erheiterte sich ihr Gesicht, wie die Sonne durch Regen,
sie trocknete die Augen und sah mich urplötzlich lächelnd an.
Wir genossen nun wieder freie Tage, und ich begleitete Anna zur Erholung
sogleich nach Hause, um dort zu weilen bis zum Leichenbegängnis.
Ich blieb die Zeit über ziemlich ernst, da der ganze Verlauf mich
angegriffen und mir überdies die Großmutter sehr lieb und verehrungswürdig
gewesen, ungeachtet ich sie erst seit kurzem kannte. Diese Stimmung war
nun wiederum meiner Freundin unbehaglich, und sie suchte mich mit tausend
Listen aufzuheitern und glich hierin den übrigen Frauen, welche alle
wieder plaudernd und schwatzend vor ihren Häusern standen.
Der Mann der toten Großmutter tat nun, während er sich bequem
fühlte, als ob er sehr viel verloren und seine Frau im Leben wert
gehalten hätte. Er ordnete eine pomphafte Leichenfeier an, woran
über sechzig Personen teilnehmen sollten, und ließ es an nichts
fehlen, alle alten Gebräuche in ihrem vollen Umfange zu beobachten.
Am bezeichneten Tage begab ich mich mit dem Schulmeister und mit Anna
auf den Weg; er trug einen feierlichen schwarzen Frack mit sehr breiten
Schößen und eine gestickte weiße Halsbinde, Anna ebenfalls
ihr schwarzes Kirchengewand und eine ihrer eigentümlichen Krausen,
worin sie aussah wie eine Art Stiftsfräulein. Den Strohhut hingegen
ließ sie zu Hause und trug ihre Haare besonders kunstreich geflochten,
dazu durchdrang sie heut eine tiefe Frömmigkeit und Andacht, sie
war still und ihre Bewegungen voll Sitte, und dieses alles ließ
sie in meinen Augen in neuem, unendlichem Reize erscheinen. In meine traurig
festliche Stimmung mischte sich ein süßer Stolz, mit diesem
liebenswürdigen und seltenen Wesen so vertraut zu sein, und zu diesem
Stolze gesellte sich eine innige Verehrung, daß ich meine Bewegungen
ebenfalls maß und zurückhielt und mit eigentlicher Ehrerbietung
neben ihr her ging und ihr dienstbar war, wo es der unebene Weg erforderte.
Wir machten vorerst im Hause meines Oheims halt, dessen Familie schon
gerüstet war und sich, als die Totenglocke läutete, uns anschloß.
Im Sterbehause wurde ich von meinen sämtlichen Begleitern getrennt,
da meine Stellung als Enkel die Gegenwart unter den nächsten Leidtragenden
mit sich brachte, und als der jüngste und unmittelbarste Nachkomme
befand ich mich in meinem grünen Habit an der Spitze der ganzen Trauergesellschaft
und war den umständlichen und langwierigen Zeremonien zuerst ausgesetzt.
Die nähere Verwandtschaft war in der geräumten großen
Wohnstube versammelt und harrte auf das weibliche Geschlecht, welches
erscheinen sollte, um hier seine Beileidsbezeugungen abzustatten. Nachdem
wir eine geraume Weile stumm und aufrecht längs den Wänden gestanden,
traten nach und nach viele bejahrte Bäuerinnen herein, in schwarzer
Tracht, fingen bei mir an, eine um die andere, indem sie mir die Hand
boten, ihren Spruch sagten und zum nächsten fortschritten auf gleiche
Weise. Diese Matronen gingen größtenteils gebückt und
zitternd und sprachen ihre Worte mit Rührung als alte Freundinnen
und Bekannte der Seligen und als solche, welche die Nähe des Todes
doppelt empfanden. Sie sahen mich alle fest und bedeutungsvoll an, ich
mußte jeder einzelnen danken und sie ebenfalls ansehen, was ich
ohnehin getan hätte. Manchmal war eine noch hohe und kraftvolle alte
Frau darunter, welche aufrecht heranschritt und mit Seelenruhe auf mich
sah; dann folgte aber gleich wieder ein gebeugtes Mütterchen, welches
an seinen eigenen Leiden dasjenige der Geschiedenen zu kennen und zu schätzen
schien. Doch wurden die Frauen immer jünger und in gleichem Verhältnisse
mehrte sich die Zahl; die Stube war nun vollständig mit dunklen Gestalten
angefüllt, die sich herbeidrängten, Weiber von vierzig und dreißig
Jahren, voll Beweglichkeit und Neugierde; die verschiedenen Leidenschaften
und Eigentümlichkeiten waren kaum durch die gleichmachende Trauerhaltung
verschleiert. Der Andrang schien kein Ende nehmen zu wollen; denn nicht
nur das ganze Dorf, sondern auch viele Frauen aus der Umgegend waren erschienen,
weil die Verstorbene eines großen Ruhmes unter ihnen genoß,
der, zum Teil verjährt, jetzt noch einmal in vollem Glanze sich geltend
machte. Endlich wurden die Hände glätter und weicher, das jüngste
Geschlecht zog vorüber, und ich war schon ganz mürbe und müde,
als meine Basen herzutraten, mir aufmunternd und freundlich die Hand reichten,
und gleich hinter ihnen, wie ein Himmelsbote, die allerliebste Anna, welche,
blaß und aufgeregt, mir flüchtig das Händchen reichte
und schimmernde Tränen darüber fallen ließ. Weil ich seltsamerweise
gar nicht an sie gedacht und auf sie gehofft hatte, schwebte sie mir jetzt
um so überraschender vorüber.
Zuletzt erschöpfte sich doch die Frauenwelt, und wir traten vor das
Haus, wo eine unabsehbare Schar bedächtiger Männer harrte, um
mit uns, die wieder eine Reihe bildeten, den gleichen Gebrauch vorzunehmen.
Sie machten es zwar bedeutend kürzer und rascher als ihre Weiber,
Töchter und Schwestern, allein dafür gebrauchten sie ihre schwierigen
harten Hände wie Schmiedezangen und Schraubstöcke, und aus mancher
Faust brauner Ackermänner glaubte ich meine Hand nicht mehr heil
zurückzuziehen.
Endlich schwankte der Sarg vor uns her, die Weiber schluchzten und die
Männer sahen bedenklich und verlegen vor sich nieder; der Geistliche
erschien auch und machte seine Würde geltend, und ohne viel zu wissen,
wie es zugegangen, sah ich mich endlich an der Spitze des langen Zuges
auf dem Kirchhofe und dann in die kühle Kirche versetzt, welche von
der Gemeinde ganz angefüllt wurde. Ich hörte nun mit Verwunderung
und Aufmerksamkeit den ursprünglichen Familiennamen, die Abstammung,
das Alter, den Lebenslauf und das Lob der Großmutter von der Kanzel
verkünden und stimmte von Herzen in das Versöhnungs- und Ruhelied,
welches zum Schlusse gesungen wurde. Als ich aber die Schaufeln klingen
hörte vor der Kirchentür, drängte ich mich hinaus, um in
das Grab zu schauen. Der einfache Sarg lag schon darin, viele Menschen
standen umher und weinten, die Schollen fielen hart auf den Deckel und
verbargen ihn allmählich; ich sah erstaunt hinein und kam mir fremd
und verwundert vor, und die Tote in der Erde erschien mir auch fremd,
und ich fand keine Tränen. Erst als es mir durch den Sinn fuhr, daß
es die leibliche Mutter meines Vaters gewesen, und an meine Mutter dachte,
welche einst auch also in die Erde gelegt werde, da vergegenwärtigte
sich mir wieder mein Zusammenhang mit diesem Grabe und das Wort: »Ein
Geschlecht vergeht, und das andere entsteht!«
Der eingeladene Teil der Versammlung begab sich nun wieder nach dem Trauerhause,
dessen Räume alle von den Vorrichtungen des Leichenmahles belebt
waren. Als man zu Tische saß, versetzte mich die Sitte wieder an
die Seite des finsteren Witwers, wo ich zwei volle Stunden aushalten mußte,
ohne mit jemandem sprechen zu können, solange die erste herkömmliche
Essenszeit mit allen ihren unvermeidlichen Gerichten dauerte. Ich sah
die lange Tafel hinunter und suchte den Schulmeister und sein Kind, welche
auch anwesend waren; sie mußten aber im anstoßenden Zimmer
sein, denn ich fand sie nicht.
Anfänglich wurde mäßig und bedächtig gesprochen und
die Speisen in großer Ehrbarkeit eingenommen. Die Bauern saßen
aufrecht an ihre Stühle oder an die Wand gelehnt, in beträchtlichem
Abstand vom Tische, und stachen die Fleischbissen mit feierlich ausgestrecktem
Arme an, die Gabel am äußersten Ende haltend. So führten
sie ihre Beute auf dem weitesten Wege zum Munde und tranken den Wein in
kleinen, züchtigen, aber häufigen Zügen. Die Aufwärterinnen
trugen die breiten Zinnschüsseln in erhobenen Händen in der
Höhe ihres Gesichtes heran, mit gemessenem Paradeschritt, die Hüften
gewaltig hin und her wiegend. Wo sie die Tracht auf den Tisch setzten,
mußten die beiden Zunächstsitzenden einen Wettstreit beginnen,
indem sie ihnen ihre Gläser zum Trinken boten und jeder wenigstens
zwei gute Witze flüsterte; dieser kleine Kampf wurde dann dadurch
geschlichtet, daß die Aufwärterin aus jedem Glase nippte und
mehr oder weniger zufrieden mit der Ausführung dieser Etikette sich
zurückzog.
Nach Verfluß zweier langen Stunden näherten sich die Roheren
unter den Gästen immer mehr dem Tische, legten die Arme darauf und
begannen nun erst ein fleißiges Essen, wozu sie den Wein in tiefen
Zügen schluckten. Die Gesetzteren aber wurden lauter im Gespräche,
rückten ihre Stühle mehr zusammen und ließen die Unterhaltung
allmählich in eine mäßige Fröhlichkeit übergehen.
Diese war wohl zu unterscheiden von einer gewöhnlichen lustigen Stimmung
und eine symbolische Absicht, welche eine heitere Ergebung in den Lauf
der Dinge und das Recht des Lebens gegen den Tod bedeuten sollte.
Ich fand nun endlich Raum, meinen Platz zu verlassen und umherzugehen.
Im nächsten Zimmer fand ich an einer kleineren Tafel Anna neben ihrem
Vater sitzen, welcher im Kreise einiger Klugen und Frommen die weise und
fröhliche Ergebung in das Unvermeidliche mit ausgezeichneter Kunst
übte. Er machte einigen bejahrten Frauen den Hof und wußte
jeder noch zu sagen, was sie vor dreißig Jahren gern gehört;
dafür schmeichelten sie der kleinen Anna, lobten ihre Manieren und
priesen den Alten glücklich. Zu dieser Gruppe setzte ich mich und
horchte neben Anna auf die beschaulichen Reden der Alten. Dabei hielten
wir zwei, denen nun erst vergnüglich zumute wurde, noch eine kleine
Mahlzeit aus der gleichen Schüssel und tranken zusammen ein Glas
Wein.
Auf einmal fing es über unseren Köpfen an zu brummen und zu
pfeifen. Geige, Baß und Klarinette wurde angestimmt, und ein Waldhorn
erging sich in schwülen Tönen. Während der rüstige
Teil der Versammlung aufbrach und nach dem geräumigen Boden hinaufstieg,
sagte der Schulmeister: »So muß es also doch getanzt sein?
Ich glaubte, dieser Gebrauch wäre endlich abgeschafft, und gewiß
ist dies Dorf das einzige weit und breit, wo er noch manchmal geübt
wird! Ich ehre das Alter, aber alles, was so heißt, ist doch nicht
ehrwürdig und tauglich! Indessen mögt ihr einmal zusehen, Kinder,
damit ihr später noch davon sagen könnt; denn hoffentlich wird
das Tanzen an Leichenbegängnissen endlich doch verschwinden!«
Wir huschten sogleich hinaus, wo auf dem Flur und der Treppe, die nach
oben führte, die Menge sich zu einem Zuge ordnete und paarte, denn
ungepaart durfte niemand hinaufgehen. Ich nahm daher Anna bei der Hand
und stellte mich in die Reihe, welche sich, von den Musikanten angeführt,
in Bewegung setzte. Man spielte einen elendiglichen Trauermarsch, zog
nach seinem Takte dreimal auf dem Boden herum, der zum Tanzsaal umgewandelt
war, und stellte sich dann in einen großen Kreis. Hierauf traten
sieben Paare in die Mitte und führten einen schwerfälligen alten
Tanz auf von sieben Figuren mit schwierigen Sprüngen, Kniefällen
und Verschlingungen, wozu schallend in die Hände geklatscht wurde.
Nachdem dies Schauspiel seine gehörige Zeit gedauert hatte, erschien
der Wirt, ging einmal durch die Reihen, dankte den Gästen für
ihre Teilnahme an seinem Leid und flüsterte hier und dort einem jungen
Burschen, daß es alle sahen, in die Ohren, er möchte sich die
Trauer nicht allzusehr zu Herzen gehen und ihn in seinem Schmerze jetzt
nur allein und einsam lassen, er empfehle ihm vielmehr, sich nun wieder
des Lebens zu freuen. Hierauf schritt er wieder gesenkten Hauptes von
dannen und stieg die Treppe hinunter, als ob es direkt in den Tartarus
ginge. Die Musik aber ging plötzlich in einen lustigen Hopser über,
die Älteren zogen sich zurück, und die Jugend brauste jauchzend
und stampfend über den dröhnenden Boden hin. Anna und ich standen,
noch immer Hand in Hand, verwundert an einem Fenster und schauten dem
dämonischen Wirbel zu. Auf der Straße sahen wir die übrige
Jugend des Dorfes dem Geigenklange nachziehen; die Mädchen stellten
sich vor die Haustür, wurden von den Knaben heraufgeholt, und wenn
sie einen Tanz getan, hatten sie das Recht erworben, aus den Fenstern
die Burschen, die noch unten waren, heraufzurufen. Es wurde Wein gebracht
und in allerhand Dachwinkeln kleine Trinkstätten hergestellt, und
bald verschmolz alles in einen rauschenden und tobenden Wirbel der Lust,
welche sich in ihrem Lärm um so sonderbarer ausnahm, als es Werktag
war und das Feld weit herum in gewöhnlicher stiller Arbeit begriffen.
Nachdem wir lange Zeit zugeschaut, fortgegangen und wieder gekommen waren,
sagte Anna errötend, sie möchte einmal probieren, ob sie in
der großen Menge tanzen könne. Dieses kam mir sehr gelegen,
und wir drehten uns im selben Augenblicke in den Kreisen eines Walzers
dahin. Von nun an tanzten wir eine gute Weile ununterbrochen, ohne müde
zu werden, die Welt und uns selbst vergessend. Wenn die Musik eine Pause
machte, so standen wir nicht still, sondern setzten unsern Weg durch die
Menge fort in raschem Schritte und fingen mit dem ersten Tone wieder zu
tanzen an, wir mochten gerade gehen, wo es war.
Mit dem ersten Tone der Abendglocke aber stand auf einmal der Tanz still
mitten in einem Walzer, die Paare ließen ihre Hände fahren,
die Mädchen wanden sich aus den Armen ihrer Tänzer, und alles
eilte, sich ehrbar begrüßend, die Treppe hinunter, setzte sich
noch einmal hin, um Kaffee mit Kuchen zu genießen und dann ruhig
nach Hause zu gehen. Anna stand, mit glühendem Gesichte, noch immer
in meinem Arme, und ich schaute verblüfft umher. Sie lächelte
und zog mich fort; wir fanden ihren Vater nicht mehr im Hause und gingen
weg, ihn beim Oheim aufzusuchen. Es war Dämmerung draußen,
und die allerschönste Nacht brach an. Als wir auf den Kirchhof kamen,
lag das frische Grab einsam und schweigend, vom aufgehenden goldenen Monde
bestreift. Wir standen vor dem braunen, nach feuchter Erde duftenden Hügel
und hielten uns umfangen; zwei Nachtfalter flatterten durch die Büsche,
und Anna atmete erst jetzt schnell und stark. Wir gingen zwischen den
Gräbern umher, für dasjenige der Großmutter einen Strauß
zu sammeln, und gerieten dabei, im tiefen Grase wandelnd, in die verworrenen
Schatten der üppigen Grabgesträuche. Da und dort blinkte eine
matte goldene Schrift aus dem Dunkel oder leuchtete ein Stein. Wie wir
so in der Nacht standen, flüsterte Anna, sie möchte mir jetzt
etwas sagen, aber ich müßte sie nicht auslachen und es verschweigen.
Ich fragte. Was? und sie sagte, sie wolle mir jetzt den Kuß geben,
den sie mir von jenem Abend her schuldig sei. Ich hatte mich schon zu
ihr geneigt, und wir küßten uns ebenso feierlich als ungeschickt.
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