Vergil: Lied vom Helden Aeneas, 30-19 v. Chr.
Sechster Gesang
Derart berichtete ihm die bejahrte Prophetin Apollos,
drängte dann: »Auf, zieh weiter, es gilt, die Pflicht zu erfüllen!
Eilen wir! Schon erblicke ich die von Kyklopen in ihrer
Werkstatt geschmiedeten Wände, die vorwärts sich wölbenden
Tore,
wo wir, der Vorschrift gemäß, die Weihgabe ablegen müssen.«
Gleichmäßig schritten sie weiter über die düsteren
Wege,
legten die restliche Strecke zurück und nahten dem Tore.
Zügig erreichte Aeneas den Eingang, besprengte mit frischem
Wasser die Glieder und heftete vorn an die Türe den Goldzweig.
Erst nach Erfüllung der Pflicht, die der Gottheit gebührte,
gelangten
sie zu den Stätten der Freude, den lieblich grünenden Hainen,
Orten des Glücks, den Gefilden, in denen die Seligen wohnen.
Üppige himmlische Luft umwebt mit purpurnem Lichte
schimmernd die Fluren, mit eigener Sonne, mit eignen Gestirnen.
Viele Bewohner üben den Körper auf rasiger Kampfbahn,
tummeln im Spiel sich, betreiben auf gelblichem Sande den Ringkampf.
Andere schwingen die Beine im heiteren Reigen und singen.
Auch der thrakische Sänger, als Priester umwallt vom Talare,
läßt zum Gesange die siebensaitige Leier erklingen,
schlägt sie mit Fingern, im Wechsel darauf mit dem Elfenbeinstäbchen.
Hier auch verweilen die herrlichen Enkel des uralten Teukros,
edle und mutige Helden, geboren in besseren Zeiten,
Ilos, Assárakos, Dardanos schließlich, der Gründer von
Troja.
Seitlich erspähte Aeneas Waffen, zugleich nicht besetzte
Wagen; die Speere standen, ins Erdreich gebohrt, und die Rosse,
abgeschirrt, weideten: Wer sich an Wagen und Waffen in seinem
Leben erfreute, wer glänzende Rosse aufzog und pflegte,
darf sich im Erdenschoß auch der Lieblingsbeschäftigung widmen.
Andere sah Aeneas zur Rechten wie Linken im Grase
lagern und schmausen, im Chor derweilen ein Festlied auch singen,
mitten im duftenden Lorbeerhaine, aus dem sich nach oben
wasserreich, breit, der Eridanos wälzt durch bewaldete Fluren.
Hier verweilt, wer Wunden empfing im Kampf um die Heimat,
wer als Priester sein ganzes Leben sittenrein führte,
wer sich als frommer Prophet Apollos würdig erwiesen,
auch wer in Kunst und Wissenschaft fruchtbar das Leben erhöhte
oder durch andre Verdienste selber ein Denkmal sich setzte;
schneeweiße Binden umwinden ihnen allen die Häupter.
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