Geißlerzüge, Pest und Totentanz werden oft zusammen genannt. Tatsächlich kommen alle drei erst in der jüngsten Vergangenheit gemeinsam vor. Aber seit 1485 tritt ein einzelner Flagellant in der oben abgebildeten Wandmalerei auf. Der Figurenreigen ziert die Fassade des "Oratorio dei Disciplini" in Clusone, Lombardei, Provinz Bergamo. Passend zum Namen der Bruderschaftskapelle herrscht Ordnung, wenn auch nicht die allgemein bekannte.
Ausgehend vom Beinhaus am linken Rand stellt die Reihenfolge unsere Sehgewohnheiten auf den Kopf. Bei der ersten lebenden Gestalt handelt es sich nicht etwa um den Papst, sondern um ein unverheiratetes Mädchen, das sein Spiegelbild betrachtet. Nach rechts schließen sich ein weißer Flagellant mit massiver Eisenkette an, ein Wandergeselle mit geflickten Hosen, der an der hölzernen Kanne erkennbare Wirt, ein Amtmann, der Reiche mit großem Portemonnaie, ein gelehrter Jüngling mit Schriftstück sowie der Herr mit Robe nach Art der Richter. Seit dem Einbau der Außentreppe 1673 fehlt das rechte Drittel des Reigens. Chronisten scheint es leicht gefallen zu sein, auf die Spitze der Gesellschaft zu verzichten, jedenfalls unmittelbar neben der Tür ins erste Obergeschoss.
Fest steht, dass das Fresko den Darstellungen in Istrien, also Kroatien und Slowenien, näher verwandt ist als den Totentänzen des oberdeutschen Sprachraums. In Clusone schreiten Skelette und Sterbende feierlich wie bei einer Prozession. Nichts erinnert an Musik und schwungvolle Bewegung.
Als Maler wird vielfach der 1487 verstorbene Giacomo Borlone de Buschis genannt. Gesichert ist die Zuschreibung allerdings nur für die Fresken im Inneren der Kapelle. Wahrscheinlich geht auch die Datierung der abgebildeten Figurenfolge auf das Todesjahr des lombardischen Meisters zurück.